An die Lebenden / Von Günter Verdin

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Da liegen sich die Kranken wund

und atmen

aus Schläuchen den Rest von Leben

antworten mit mäßigen Impulsen

auf lästige Anfragen

aus elektronischen Geräten.

Ratlos zeichnen Stifte

ihre zickgezackten Kurven

ratlos tröpfeln

Aufbaustoffe in die Venen.

Über Katheter zuckelt

irritiert Urin

Kot fließt gezeitenlos

ins ohnmächtige Linnen.

Da wundern sich die Kranken liegend

was da wohl auf dem Spiel stehe.

Mit aufgerissenen Augen

geben sie Signale

und geizen nicht

mit letzten

mißzuverstehenden Worten.

Aus allen Poren schwitzen sie

Befehle – keine Bitten! –

Befehle, die die Hilflosigkeit

verbieten, und die Übermacht

der Helfer mit dem Zeitmaßstab.

Wir sind Geweihte

schreien tonlos Lippen

und Sehende

mit Augen, die sich für immer schließen.

Wir sind Wissende

auch wenn die Hände

resignierend ineinandersinken.

Wir sind das Gesetz

belfert es mit dem Blutsturz

aus dem angegriffenen Gewebe.

Wir sind die Macht

denn alles Leben zieht sich fest

in unserm Bann.

Wir sind der Trost,

rumort ein angekrebster Magen,

der viel auf seine Metastasen hält.

Wir sind der Sinn,

wimmert ein Menschenleib

der sich zum Fragezeichen krümmt.

Denn wir sind jener Teil

der euch zum Ganzen fehlt.

Und siehe

was ein krankes Hirn

so alles träumt:

auf einer blutübersäten Wiese

taumeln

Totlebendige.

(Gemälde von Ferdinand Hodler. „Valentine Gode-Darel“ -1914. )

#Günter_Verdin: „Historische“ Gedichte

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SEPTEMBER 1989

BOTANIK

Die Hoffnung grünt,

Und Perestroika blüht,

(Wer selbst im Glasnost sitzt,

Wirft nicht den ersten Stein)

Und Solidarnosc pflanzt sich fort.

Nur die DDR

Will Mauer-Blümchen bleiben.

TEILWEISE

Wir teilen die Meinung,

Bis jeder eine hat,

Eine, wohlverstanden,

Denn Meinungsvielfalt bringt nur Streit.

Wir teilen den Mangel,

Bis ihn alle leiden.

Wer keinen Neid kennt,

Kennt auch keinen Mangel.

Wir teilen die Freiheit,

Und weil wir so viele sind,

Bleibt von der Freiheit

Nicht viel übrig.

ANMERKUNG: AM 9.NOVEMBER 1989 FIEL DIE MAUER.

#ELEGIE

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Von Günter Verdin

Ich fühle eine Sehnsucht,

welche wächst

an diesem heiter sanften Herbsttag,

an dem selbst die Sonne

eine Meinung hat –

sie meint es nämlich gut -,

und die Natur es bunt treibt,

und die Blätter wirbeln

ohne laut zu sein,

und alles Spiel wird,

grundlos und gewichtlos,

und die Zeit sich selbst vergisst:

an diesem Herbsttag

fühl ich Sehnsucht danach –

einmal keine Satire zu schreiben.

Mineralölfreier #ADVENTKALENDER 10. Dezember.#Klabund.#Käthe_Kollwitz

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„Hans Kollwitz mit Kerze, 1895“

Käthe Kollwitz

Klabund

Bürgerliches Weihnachtsidyll

Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?

Ein Strauß von Rosmarin und Lilien.

Sie geht so fleißig auf den Strich.

O Tochter Zions, freue dich!

Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder?

Vom Himmel hoch, da komm ich nieder.

Die Mutter wandelt wie im Traum.

O Tannebaum! O Tannebaum!

O Kind, was hast du da gemacht?

Stille Nacht, heilige Nacht.

Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:

Mama, es ist ein Reis entsprungen!

Papa haut ihr die Fresse breit.

O du selige Weihnachtszeit!

Mineralölfreier ADVENTKALENDER .9. Dezember

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Advent

Theodor Fontane

Noch ist Herbst nicht ganz entfloh’n,

Aber als Knecht Ruprecht schon

Kommt der Winter hergeschritten,

Und alsbald aus Schnees Mitten

Klingt des Schlittenglöckleins Ton.

Und was jüngst noch, fern und nah,

Bunt auf uns hernieder sah,

Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,

Und das Jahr geht auf die Neige,

Und das schönste Fest ist da.

Tag du der Geburt des Herrn,

Heute bist du uns noch fern,

Aber Tannen, Engel, Fahnen

Lassen uns den Tag schon ahnen,

Und wir sehen schon den Stern.

Mineralölfreier ADVENTKALENDER . 2. Dezember

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Rainer Maria Rilke

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde

Die Flockenherde wie ein Hirt,

Und manche Tanne ahnt, wie balde

Sie fromm und lichterheilig wird.

Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen

Streckt sie die Zweige hin bereit

Und wehrt dem Wind und wächst entgegen

Der einen Nacht der Herrlichkeit.

HERBST

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war
sehr groß.
Leg Deine Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich
keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(Rainer Maria Rilke)

SALZBURG MON AMOUR: Festspiel-Impressionen

CAFE BAZAR
Von Günter Verdin

An einem bis zm Rand
mit Hitze aufgekochten Sommernachmittag
unter
schattenverschwendenden Kastanien,
inmitten
von Chanel-Kostümen,
Großen Braunen, Gucci-Schuhen,
Schlagobers, Taschen von Louis Vuitton,
Creme de la Cremeschnitten,
in Gesellschaft von
Dior, Balmain und Estee Lauder,
und Frisuren
kreiiert von Alexandre (oder doch vom Sturmayr?),
inmitten
der Wortseelen,
die unerlöst um die Tischbe schweben –

an einem solchen
pierrecardinstrudelundvalentinogetränkten
Sommernachmittag
auf der Bazar-Terrasse,
einmal,
in die wortlastige Stille hinein,
ganz laut rülpsen –
du liebeblauer Himmel! –
ich wäre selbst schockiert!

Die goldnen Brunnen
Von Günter Verdin

Die goldnen Brunnen dieser Stadt,
sie singen ihre leisen Lieder.
Fontänen tönen auf und ab.
Und sie kehren immer wieder.

Vergoldend scheint der Sonne Licht
auf Motivschatzgräber nieder;
im Sucher findest du die Töne nicht.
Und sie kehren immer wieder.

Wie Silber blinkt es auf dem Grund-
die Menschen recken heiter ihre Glieder
und werfen rücklings Münzen in das Rund:
und sie kehren immer wieder.

Sobald der Mond sich silbern spiegelt
tauchen auf ganz andre Brüder
und nach dem Gold ganz ungezügelt –
und sie kehren immer wieder.

Die goldnen Brunnen dieser Stadt,
sie singen ihre leisen Lieder.
Wär alles nur ein Plagiat?
Und sie kehren immer wieder…

GESTERN
Von Günter Verdin

Gestern
wurde die Zukunft der Kunst
beschlossen.
Dramatische Szenen gab es nur
beim Theater:
es wurde dann unter Rufpreis abgegeben.

Das klassische Ballett
ging weg, wenn nicht
zum Spitzenwert,
denn doch zu guter Kondition.

Auch im Konzertgeschäft
gaben die Banknoten
den Ton an.
Und schließlich den Ausschlag.

Die Opernproduktionen,
etwas taktlos
als Karajan-Paket bezeichnet,
erzielten die Höchstsumme.

Sänger, Dirigenten und Starregisseure
hielten ihren Marktwert.
Das Direktorium aber
wollte niemand haben.

Ein amerikanischer Automobilerzeuger
machte das Rennen,
nachdem lange Zeit
ein Fast-Food-Konzern
mitgeboten hatte.

Gestern
wurden die Salzburger Festspiele
versteigert.

GEDANKENTURNEN
Von Günter Verdin


1.Übung
Der Gedanke steht fest.
Bevor wir ihn als
3.Übung
auf den Kopf stellen,
strecken wir ihn als
2.Übung
bis er sich hebt
und ganz erhaben ist.

4.Übung
Der Gedanke hängt zu hoch.
Bevor wir ihn als
6.Übung
kräftig stutzen,
versuchen wir ihn als
5.Übung
rundum zu öffnen.

7.Übung
Der Gedanke kreist nun.
Bevor wir ihn als
9.Übung
neu in Top-Form bringen,
wagen wir noch als
8.Übung
die In-Frage-Stellung.

Was denken Sie,
wie weit sich
der Festspielgedanke
noch dehnen lässt?

ABERGLAUBE
Von Günter Verdin
Läuft einem
sommersüber
in Salzburg
ein Salzbürger
über den Weg
soll man ihn
halsüberkopf
berühren.

Das bringt Glück.

DIE RETOURKUTSCHE
Von Günter Verdin

Das müsste
wahnsinnig
komisch sein:
sich in der
Getreidegasse
im Smoking
auf den Gehsteig stellen
und den Touristen
zuschauen:
schauen ob
Unbekannte
dabei sind,
und was sie
Alltägliches anhaben.

Abends
vor dem
Festspielhaus
ist es wieder
umgekehrt.
Da ist der
Smoking
wieder auf dem
rechten Fleck
und links,
gegenüber
auf dem Gehsteig
stauen sich
staunend
die Touristen.

Durch das Spalier
ziehen
lautlos und unsichtbar
Paradepferde
eine Retourkutsche.

Fahr`n ma
Euer Gnaden?

STANDPUNKT
Von Günter Verdin

Herüben
flutet das Licht
aus allen Poren
des festlichen Hauses.

Dort drüben
leuchten Augen,
doch treffen die Blicke
unfestlich nur Fakten.

Herüben
buckeln Chauffeure
und reissen
die Wagentüren auf.

Dort drüben
recken verschlossen
Demonstranten die Hälse
gegen die Hochkultur.

Herüben
entfalten festliche Roben
ihre seidenen Blüten,
perlen gleich Tau die Juwelen.

Dort drüben
geraten die Deomonstranten
zusehends ausser sich,
skandieren Unerhörtes.

Ich stehe
dort drüben
bei den Demonstranten,
aber schreite
herüben
ins Festspielhaus.

Rainer Maria Rilke


SALZBURG -(m)eine Ansichtsache
Von Günter Verdin

Selbst die Salzach will nicht bleiben.
Sie windet sich durch diese Stadt
wie ein Touristen-Strom, so träg und zäh,
wie eine Diva, eh und je,
liegt sie im Bett und lässt sich
fotografieren.

Und wenn die Gäste ein Bild sich machen
und die Ansicht davonstehlen in alle Welt
im fließenden Kommen-Gehen,
hat der Salz-Bürger sein Nachsehen,
sitzt im Café und lässt sich
irritieren.

Salzburg nämlich gab es nie.
Ist nur Motiv, Fotografie…

Selbst die Salzach will nicht bleiben,
sie windet sich und biegt dann ab vor Lachen.
Und staunend hält die Festung ihre Wache.
O Salzburg – meine Ansicht-Sache:
dein Bild in mir – das will ich nie
verlieren.

DIE LIEBE ZU ZEITEN DES FESTSPIELS
Von Günter Verdin

Immerzu seid Ihr zu Gast.
Immer offen ist mein Haus
(respektive meine Zwei-Zimmer-Wohnung).
Immer hoffe ich,
die Spuren zu Euch
in meinem namenlosen Gedächtnis
zu finden.

Und immerzu schwebt Ihr herbei
auf den Flügeln von Tonfolgen.
Nachts versinkt Ihr – Erbarmen! –
in meinen Betten und Armen.
So hat auch die Liebe ihre Jahreszeiten.
Die Zeit, die Ihr Euch nehmt,
von Sommer zu Sommer,
ist gerade lange genug,
die Spannung zu nähren,
für die Erlösung ich sehne.

Doch immerfort
lasst Ihr mich traurig zurück,
auch wenn Ihr bleibt als Idee
von kurzweilender Glückseligkeit
in meinen Betten und Armen.
(Als Hohngelächter trifft mich der Abschied).
Am Himmel bleiben wie Tränenspuren
Kondensfäden zurück.
Ich bleibe auch
und halte die Festung.

SALZBURG, HELLBRUNN
Von Günter Verdin

Einsamkeit
gesell dich zu mir,
wir treiben`s zu dritt:
du, ich und meine Melancholie.
Der daraus entspringt
ist ein glücklicher Narr,
nichtsdestoweniger Narr,
er gleicht sich selbst aus
und mir
gleicht er auch.

SALZBURG -Mon Amour
Von Günter Verdin

Gott schickt in dieses Dunkel
schöne blonde 1 bis 2-Tage-Engel
sie flattern unheilig durchs Gemüt
und lehren uns das Beten.

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